Gesehen? Gewusst? Geahnt?

Schuld?

Die  Judenverfolgung in der Kleinstadt Bleicherode

Dr. Dirk Schmidt

 


Heute noch ein Problem?                                        

Die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in der Nazizeit führt auch noch heute  zu der Frage, ob die damals aktive Generation eine Schuld trifft, die dann auch für die Nachfolgenden von Bedeutung wäre. Die Beurteilung derjenigen, die die Verbrechen kannten, mitgetragen und gebilligt haben, ist klar. Es geht hier um die Vielzahl jener, die die Diskriminierungen, die Gewalt und den Mord mehr oder weniger, früher oder später kannten, ahnten, sie ablehnten und doch keinen Widerstand leisteten. Es sollte keine Frage sein, dass auch aus ihrem Verhalten heute und in Zukunft eine historische Hypothek folgt. Dabei ist gewiss erheblich, ob denjenigen, die damals die Untaten des Naziregimes ablehnten und dennoch nichts dagegen unternahmen, ein Vorwurf gemacht werden kann.

Ohne Kenntnis der Verhältnisse und des Geschehens in der Nazizeit ist ein Urteil schwierig. Dabei ist heute die Erinnerung der letzten Zeitgenossen wichtig. Man muss versuchen, sich in die Jahre 1933-45 zu versetzen. Es geht darum: Was hat die Bevölkerung gesehen, gewusst und geahnt? Und es stellt sich die Frage, was hätten Einzelne oder Gruppen unter der Gewaltherrschaft der Nazidiktatur tun können, um die Verbrechen zu verhindern? Das Verhalten und die Situation von Berufsgruppen und politisch In- bzw. Desinteressierten oder die Bevölkerungs- und Bildungsstruktur in den Regionen/Städten/Dörfern wären zu bedenken. Es gab Wohngebiete mit geringem oder mit keinem jüdischen Anteil, in denen man vor allem auf die gelenkte Presse und auf private Kontakte angewiesen war. Die Zeitungen oder der Rundfunk vermittelten Hetzmeldungen über Ausgrenzung und Diffamierung, aber nicht über Verfolgung und Vernichtung. Gegenüber Pauschalurteilen ist deshalb Vorsicht geboten.

Es könnte für Kleinstädte mit größerem jüdischen Bevölkerungsanteil exemplarisch sein, die Entwicklung des Verfolgungsablaufs in der Nazizeit in Bleicherode zu verfolgen. Gab es im Reich 1933 annähernd 600 Tsd jüdische Bürger, so waren es in Bleicherode damals bei ca. 6000 Einwohnern  107 (Israel Schwierz, Landeszentrale f.pol.Bildung Thüringen 2007/Heft 7, S. 78). Bei Kriegsbeginn lebten hier noch „rund 30“ Juden (Geheimberichte des Bürgermeisters von Bleicherode, Oktober 1939, Kreisarchiv Nordhausen). Sie wohnten im Zentrum der Stadt oder in dessen Nähe, sie waren vor allem als Webereifabrikanten und Selbständige im Textilhandel  bekannt und hatten bis 1933  am  gesellschaftlichen Leben teilgenommen. Stets waren sie Nachbarn „arischer“ Einwohner. Also: Was hat man in der Stadt gesehen, gewusst und geahnt, was musste man vermuten, was konnte man dagegen tun?

Das allgemeine Umfeld

Die Judenhetze war im Reich der Nazis allgemeine Übung. Die kontrollierte Presse musste Diffamierungen und Verleumdungen streuen. Das galt auch für die lokalen Zeitungen. Das widerliche Hetzblatt „Der Stürmer“ verbreitete mit seinen ekelhaften Karikaturen nicht allein den seit Jahrhunderten existierenden und in Europa nicht seltenen Antisemitismus, sondern vor allem  Hetze, Lügen und Appel an die niedrigsten Instinkte. Gleich nach Beginn der Naziregierung begann die Entlassung der jüdischen Mitbürger aus dem öffentlichen Dienst. Ebenso die Berufsbeschränkungen und dann Verbote für jüdische Ärzte und Anwälte, z.B. auc in Nordhausen oder Sondershausen. 1935 wurden neben dem die jüdischen Bürger vom öffentlichen Dienst ausschließenden Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums die Rassegesetze („Nürnberger Gesetze“) erlassen, die die Juden diskriminierten und krasse Ausgrenzungsmaßnahmen zur Folge hatten. In der Pogromnacht 9./10.November 1938  fanden landesweit üble Verbrechen statt, über die in der Presse berichtet wurde. 1400 Synagogen und Beträume wurden in Deutschland zerstört, es gab über 100 Todespfer (Wikipedia, Novemberpogrome).Die sich ständig verschärfende antijüdische Gesetzgebung (mehr als 2000 Gesetze und Verordnungen bis 1943; Joseph Walk, Die Nacht als die Synagogen brannten, Heidelberg/Karlsruhe 1981) war zumindest örtlichen Behördenangehörigen ( Verwaltung, Polizei, Justiz), Anwälten und Notaren mehr oder weniger  bekannt. In die vorbereitenden Maßnahmen, die dann während des Krieges zum Vernichtungsexzess führten (Enteignung, Beschlagnahme, Verhaftung, Abschiebung, Bahntransport) waren die Kommunalverwaltungen, die Polizei, die Finanzverwaltung und die Reichsbahn eingeschaltet. Mit den Verhältnissen im KZ Buchenwald kamen manche Bürger, Firmen, Eisenbahner, Behörden in Berührung, auch Anwälte. Das dürfte später ebenso für die Geschehnisse im KZ „Lager Dora“ in Niedersachswerfen gelten. Im benachbarten V-Waffenwerk „Mittelbau“, bei dessen Bau und Betrieb man hunderte von KZ-Insassen unter unmenschlichen Bedingungen einsetzte, war ab 1943 eine Vielzahl von Ingenieuren und Facharbeitern beschäftigt, die man im Kreisgebiet privat einquartiert hatte. Haben sie stets geschwiegen? Und mancher Frontsoldat wird vorsichtig von seinen Erlebnissen in Polen und der Sowjetunion berichtet haben.

 

Die Ereignisse vor Ort.

1933 wurde der Lehrer Leopold Stein, Talstr. 10, aus dem Schuldient entlassen. Nach den Geheimberichten des Bürgermeisters wurden die jüdischen Bürger und ihre Gemeinde genau beobachtet und kontrolliert (Geheimberichte, a.a.O.). Er bemühte sich schon im April 1933 in Berlin um die Sequestrierung der jüdischen Webereien (J. Diedrich, Geschichte von Bleicherode, unveröff. Manuskript Teil 8, S.74, Heimatmuseum Bleicherode). Die Bleicheröder Zeitung berichtete über die diskriminierenden Maßnahmen auf Reichsebene und in Thüringen. Am Eingang zur Löwentorstraße gegenüber vom alten Schäferhaus hing der “Stürmer” in einem Schaukasten. Im Sommer 1938 wurden die Bemühungen verstärkt, die jüdischen Unternehmer und Geschäftsleute zu veranlassen, ihre Betriebe zu veräußern und auszuwandern (Geheimberichte 1938, a.a.O.). Überhaupt war in dieser Zeit noch die Auswanderung das maßgebende Ziel der antisemitischen Aktivitäten auch in der Stadt. 1937 zählte die jüdische Gemeinde noch 77 Mitglieder (Diedrich, a.a.O., S. 76). In der Pogromnacht vom 09./10. November 1938 steckten Nazis die große Synagoge in der Obergebraer Straße in Brand, sie wurde total zerstört. Die Täter blieben unerkannt, die Feuerwehr löschte nicht, viele Bleicheröder sahen dem Brand zu. Weshalb die “Bleicheröder Zeitung” in den Tagen danach überhaupt nicht über die Vorgänge in der Stadt berichtete, ist unklar (Jahrgang 1938, Heimatmueum Bleicherode). Im Geheimbericht des Bürgermeisters von Dezember 1938 (a.a.O.)  heißt es: Die Aktion entspricht nach allgemeiner Ansicht dem „Unwillen des deutschen Volkes…. Abgelehnt hingegen wird ebenso allgemein alles, was mit Plünderung, Terroraktion und Brutalität gegen Menschen zusammenhängt. Man konnte in der Brandnacht eine auffallende Uninteressiertheit der Bevölkerung erkennen. Der größte Teil der Zuschauer beim Synagogenbrand hatte sich bis zu den frühen Morgenstunden wieder nach Hause begeben. Was bis zum Abtransport der verhafteten Juden noch am Platze war, gehörte (selbstverständlich mit Ausnahme der diensttuenden politischen Leiter u.s.w.) zu den unerwünschten und unsicheren Bestandteilen der Bevölkerung, die die ganze Angelegenheit zu einer Sensation und Befriedigung ihrer Lüsternheit machten. Man hat beim Ausbrechen des Brandes Redensarten hören können, wie „Ob das der Führer will?“ und ähnliches.“ Das Verbrechen hat  die ganze Stadt beschäftigt. Hinzu kam die allseits bekannt gewordene Verhaftung von 11 jüdischen Bürgern mitten in der Nacht, die per LKW in das K Z Buchenwald verbracht wurden. Zwei minderjährige Kinder der Familie Strupp, Hauptstraße Nr. 98 konnten von der mutigen Hausgehilfin vom LKW geholt warden (Bericht der Schwester, Kanzleiarchiv  Bleicherode).

 

Bei den Verhafteten handelte es sich um: Rudolf Schönheim, Richard Rothenberg, Karl Michaelis, Walter Schlesinger, Kurt Schlesinger, Artur Michaelis, Max Fels, Max Kiewe, Kurt Schwabe, Gustav Frühauf, Hermann Helft, Alfred Katz. Sie wohnten in der Haupt-, Burg-, Löwentor-, Niedergebraer- und Nordhäuser Straße. 

 

Die inhaftierten Unternehmer mussten sich in den folgenden Wochen vor ihrer Entlassung verpflichten, ihren Betrieb zu verkaufen und Deutschland zu verlassen. Anfang 1939 wurde die Verhaftungsaktion allgemein beendet. Arisierung der Unternehmen, Verkauf des Grundbesitzes und Auswanderung waren die erwünschte Folge. Dabei musste die sogen. Reichsfluchtsteuer gezahlt werden, was den weniger begüterten Familien nicht möglich war.

 

Nach der Pogromnacht verließen die Stadt die Familien Oskar Schlesinger, Hermann Helft, Arthur Michaelis,  Karl Michaelis, Otto Schlesinger, Josef Schwed, Siegfried Oppenheim, Kurt Schlesinger. Als Einzelne Kurt Schwabe, Alfred Katz, Margarete Enoch. Der angesehene Fabrikant Felix Rothenberg lebte nach dem Hausverkauf mit seiner Frau Else im Haus Dr. Frühberg, Obergebraer Straße. Dort nahm er sich im Oktober 1939 das Leben. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof bestattet. Die Tochter Lore hatte im April 1939 auswandern können, nachdem sie mit der Hilfe des Kreisoberinspektors Ide einen Reisepass ohne den Aufdruck „J“ erhalten hatte.

Die 1939 erzwungenen Haus- und Grundbesitzverkäufe dürften in der Öffentlichkeit bekannt gewesen sein. Man sah die Möbelwagen für die emigrierenden Familien, und man erlebte, wie neue Eigentümer oder Mieter in die verlassenen Wohnungen und Häuser einzogen. Diedrich (a.a.O. S. 92 ff.) hat folgende Eigentumswechsel festgestellt: 8 in der Hauptstr., 2 in der Bahnhofstr., 2 in der Bahnhofstr., 2 in der Burgstr., 1 in der Nordhäuser Str., 1 in der der Löwentorstr. 1 in der Lindenstr.; 10 Gartengrundstücke wechselten den Eigentümer.   

 

Die bei Kriegsbeginn 1939 in der Stadt noch lebenden „rund 30“ Juden (Geheimberichte Oktober 1939, a.a.O.) durften nach der Anordnung des Bürgermeisters vom 27.09.1939 fortan Lebensmittel, Schuhe und Bekleidung nur von 14,30- 15,00 Uhr in 7 bestimmten Geschäften täglich (Lebensmittel) oder Dienstag/Freitag (Schuhe, Konfektion) einkaufen. Diese Anordnung beruhte auf einer Anweisung der Gestapo vom 13.09.1939. Mehrere Juden mussten ihre Wohnung auf Anordnung der Stadt verlassen, sie wurden von andern Juden aufgenommen. Das Ehepaar Dr. Frühberg lebte zuletzt (1943) im Dachgeschoss seiner Villa. Ab 01.09.1941 mussten die jüdischen Bürger den gelben Judenstern mit der Aufschrift „Jude“ tragen.

 

Nach den Feststellungen von Diedrich (a.a.O., S.87 ff. ) sowie nach den Transportlisten des Finanzpräsidiums Magdeburg (Staatsarchiv Gotha; abgedr. In jüdischer Dokumentation, Alte Kanzlei Bleicherode) wurden in den Jahren 1942-43 deportiert: Anna und Gustav Frühauf, Bertha Goldschmidt, Bertha, Mary und Alfred Herzfeld, Hedwig und Selma Katz,  Samuel Lewitz, Ida Meyer, Selma und David Rosenbaum, Else Rothenberg, Margarethe, Inge, und Richard Rothenberg, Rudolf Schönheim, Grete und Rosa Schwabe. Die untergetauchten Hedwig und Dr. Hans Frühberg wurden nach Denunziation durch eine Bleicheröderin  1944 verhaftet und deportiert. Wwe. Paula Helft und Felix Rothenberg hatten sich 1938/39 das Leben genommen.

 

Die Deportierten wohnten in der Haupt-. Bahnhof-, Ober- und  Niedergebraer- Str. Ihr Weg in die Deportation führte zunächst zum Bahnhof Bleicherode-Stadt, zugelassen waren nur Handgepäck und Rucksack. In die Deportation waren die Verwaltung und die Polizei eingeschaltet. Nicht nur die Nachbarn erlebten das, plötzlich waren die Wohnungen und Häuser verlassen. Darüber wurde allgemein gesprochen.

 

Die Schuldfrage

Angesichts dieses Geschehens kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass die Bevölkerung die 1933 einsetzende Abwanderung jüdischer Familien, die 1938 auffallend zunehmende, durch Schikane und Druck sowie durch Angst vor der Zukunft erzwungene Emigration jüdischer Familien unmittelbar erlebt und beobachtet hat. Von dem den verbleibenden Juden auferlegten Verbot, am öffentlichen Leben teilzunehmen, und ihrer Ausgrenzung wusste jeder. Die vom Regime erzwungene Distanzierung der „arischen“ Bevölkerung von den jüdischen Mitbürgern wurde eingehalten, auch wenn insgeheim Kontakte bestanden. Auch die Deportation hat man bewusst erlebt. Die Menschen verschwanden, sie ließen ihre eingerichteten Wohnungen zurück. Nach der gewaltsamen “Abschiebung” mit Handgepäck gab es von den Deportierten kein Lebenszeichen mehr, bekannt sind nur zwei Postkarten des Samuel Lewitz aus Theresienstadt. Das Schicksal des 1943 untergetauchten  Dr. Frühberg, der 1944 bei Hannover von einer Bleicheröderin erkannt und mit der Folge denunziert wurde, dass die Eheleute nach einer Großfahndung verhaftet werden konnten, war Stadtgespräch. Niemand konnte annehmen, dass den Deportierten eine akzeptable Zukunft bevorstand. Angesichts der rücksichtslosen Judenhetze war klar, dass den Deportierten unermessliches Leid  bevorstand. Auch wenn man annahm, es handle sich „nur“ um Arbeitslager „im Osten“. Jedem war bekannt, dass die Gegner und Feinde des Regimes mit brutaler Gewalt verfolgt wurden. Wussten aber die Menschen konkret, dass den Bleicheröder Juden der Tod in einer der unsäglichen Vernichtungsaktionen bevorstand? Man konnte es wohl nicht einmal ahnen. Die Geheimhaltung dieser Aktionen war überaus streng. Wer davon wusste und sein Wissen weitergab, ging das höchste Risiko ein. Das allgemeine Entsetzen und die Ungläubigkeit der Bevölkerung nach Kriegsende, als die Verbrechen ans Tageslicht kamen, führen zu dem Schluss, dass die Wenigsten die Scheußlichkeiten gekannt haben. Doch vor diesen Verbrechen hat es Enteignung, Freiheitsberaubung, Deportation, Mißsshandlung, Zwangsarbeit und mindestens eine menschenunwürdige Internierung gegeben. Dies gesehen, gewusst, geahnt oder befürchtet zu haben, ist schlimm genug.

 

War Widerstand zumutbar?

Doch rechtfertigt dies einen Schuldvorwurf? Richtig ist: Wer es zulässt, dass Mitbürgern so massenhaft krasses Unrecht geschieht, muss sich die Frage gefallen lassen, weshalb er nichts unternommen hat, um die Verbrechen mit zumutbarem Risiko zu verhindern. Aber es besteht stets eine Zumutbarkeitsgrenze, jenseits von ihr gibt es keine anrechenbare Schuld.

 

In der Kleinstadt Bleicherode waren die Verhältnisse sehr übersichtlich.Das galt für die Verfolgung und ebenso für oppositionelle Aktivitäten. Nichts blieb verborgen. Das Rathaus war die Zentrale. Man arbeitete nach dem „Führerprinzip“, der Bürgermeister, zugleich Ortsgruppenleiter der Nazipartei, oder sein Vertreter während der Kriegszeit bestimmten. Sie waren hemmungslose Judenfeinde. Das Kontroll- und Gewaltsystem war etablert. Man hätte das Schicksal der jüdischen Mitbürger ohne Risiko für Leib und Leben nicht verhindern können. Die Nazis hatten bereits 1933 innerhalb weniger Monate die wichtigsten verfassungsmäßigen Instititionen eines demokratischen Staatswesens ausgeschaltet: Reichstag, Reichsrat, Parteien, Gewerkschaften, Länder. 1934 wurde der sogen. Röhmputsch ohne Gerichtsverfahren brutal niedergeschlagen, bei dem u.a. hohe SA-Führer, der Reichskanzler a.D. Schleicher, General v. Bredow und prominente konservative Politiker wie Klausener und Jung  ermordet wurden. Ende 1934 wurde das Heimtückegesetz erlassen (RGBl. 1934 I, S. 1209). Es  stellte jede kritische Äußerung über Partei und Staat unter Gefängnisstrafe. Selbst solche im vertrauten Kreis, die in die Öffentlichkeit gelangen konnten. Bei Verstößen konnte man schon vor dem Gerichtsverfahren in Schutzhaft genommen werden. Die Gestapo war bestens organisiert. Der Fall Johanna Elisabeth Schmidt, Ehefrau des Rechtsanwalts u. Notars Karl Schmidt, wird in den Geheimberichten des Bürgermeisters von Oktober/November 193ereits6 dokumentiert. In der Stadt und an den Stammtischen wurde darüber gesprochen. Zwei weitere Fälle bekannt. Schon im Juli 1938 wurden die Juden per Gesetz aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet. Im November 1938 konnten die Verbrechen der Pogromnacht ohne Widerstand geschehen. Danach wurden die Ausweise der jüdischen Mitbürger mit einem” J” gekenzeichnet. Durch Gesetz erhielten sie den Vornamen Sarah oder Israel. Der26.08.1939 brachte das Gesetz über Wehrkraftzersetzung  (RGBl. I, S. 1455), nach dem jede oppositionelle Handlung oder Äußerung, die die Wehrkraft beeinträchtigen konnte, mit der Todes- oder zumindest mit hoher Zuchthausstrafe bedroht war. Die Konzentrationslager standen bereit, in denen 1939 bereits 30 Tsd Inhaftierte festgehalten wurden (Wachsmann, Konzentrationslager, München 2015, S. 227 ff.). Die Gestapo war überall. 1941 gab es bereits 80 Tsd KZ-Häftlinge (Wachsmann, a.a.O.). Das sind nur einige Beispiele für das Terrorsystem.

 

Diese Ereignisse dürfen nicht ohne die Durchdringung des Alltagslebens mit der Nazipropaganda, die anfänglichen Kriegserfolge und die raffinierte Indoktrination der Bevölkerung gesehen werden. Große Teile erlagen diesem Einfluss. Die Jugend war ihm im Alter von 10-18 Jahren  im Jungvolk und in der Hitlerjugend ausgesetzt und wurde oft genug verführt. Sebastian Haffner, der 1939 nach England emigrierte große Jounalist der Nachkriegsjahrzehnte, schätzte damals den Anteil der illoyalen Bevölkerung auf 35 %, den der Opponenten auf 5 % (S.Haffner, Jekyll and Hyde, London 1940; deutsche Ausgabe Berlin 1995). Die militärischen Siege in den Jahren 1939-42 drängten oppositionelle Initiativen zurück. In allen Bereichen, Gesellschaftskreisen, Unternehmen, Berufsgruppen und Vereinen hatte sich die Nazipartei mit ihren Leuten offen oder getarnt eingenistet. Das Spitzelsystem und die Bereitschaft vieler Nazianhänger zur Denunziation blühten und machten jede unbedachte kritische Äußerung gegenüber nicht absolut zuverlässigen Gesprächspartnern zum Risko. Das Misstrauen reichte sogar bis in die Familien hinein. Die Partei hatte ihre Vertrauensleute (Blockwarte) in den Wohnbezirken. Die Gestapo überwachte alle Lebensbereiche. Die Verwaltung war mit Nazis durchsetzt. Die Freiheitsstrafen und Todesurteile der Sondergerichte wegen oppositioneller Äußerungen oder Handlungen machten die Runde und veranlassten die Menschen, überaus vorsichtig zu sein. Wie weit die Einschüchterung der Bevölkerung schon 1938 gegangen war, zeigt der Bürgermeisterbericht über den Synagogenbrand in Bleicherode. Die Bürger waren danach gegen Gewalt und sie hielten es für unmöglich, dass der zur verlogenen Idealgestalt hochstilisierte “Führer” solche Verbrechen billigte. Aber sie hatten vor dem Gewaltsystem Angst. Wahrscheinlich hatte die Gestapo  die Gesellschaft schon 1936 fest im Griff.

 

Angesichts solcher Verhältnisse war Opposition nur mit dem Risiko möglich, verraten oder erkannt, verhaftet und zu Freiheits- oder Todesstrafe verurteilt zu werden. Das gilt für den Einzelnen und erst recht für den Versuch der Gruppenbildung. Mit wem konnte man sprechen? Kann man dem Normalverbraucher in einer Kleinstadt vorhalten, er hätte die Pflicht gehabt, das größte Risiko für Freiheit und Leben einzugehen? Und das ohne Erfolgsaussicht und ohne Rücksicht aufdie Folgen für die Familie und die berufliche Existenz? Nein, man kann es nicht. Helden, die Freiheit und Leben für eine gerechte Sache einsetzen, sind nun einmal selten. Die Geschwister Scholl und ihre Freunde, die Frauen und Mäner vom 20.Juli 1944, die den Tyrannenmord versuchten, waren bereit, diesen Preis zu zahlen. Ihr Unglück ist bekannt. Und die vorausgegangenen Beispiele sind nicht wenig. Hätten führende Persönlichkeiten aus dem Ausland die breite Volksmasse erreicht und etwas bewirken können? Nein, das Terrorsystem hätte es verhindert, das Abhören feindlicher Radiosendungen wurde genau kontrolliert (vgl. Stimmungsberichte des Bürgermeisters ab 1940, a.a.O.) und streng bestraft. Außerdem: Es war Krieg. Die Menschen wollten Frieden, aber sie glaubten auch, man dürfe den Soldaten an der Front nicht mit einem  Dolchstoß in den Rücken fallen.

 

So bleiben für die Verbrechen der Nazis Schuld und Verantwortung bei denen, die sie bejaht haben. Den anderen,die Unrecht, Gewalt, Deportation und Vernichtung kannten oder davon auch nur eine hinreichende Ahnung hatten und die Untaten ablehnten, kann wegen ihres passiven Verhaltens kein Schuldvorwurf gemacht werden. Doch sie werden sich später des Erlebten und der ohnmächtigen Passivität  oft genug bedrückt undr bitter erinnert haben. Nachfolgende Generationen dürfen sich nicht nur der glorreichen Seiten der deutschen Geschichte rühmen, sie müssen auch deren Schattenseiten annehmen. Sie sollten sich ohne Schuld oder Verantwortung zu diesem Geschehen im Nazireich bekennen und dafür eintreten, dass sich eine solche Entwicklung nie wieder wiederholt. Es wäre verhängnisvoll, wollten wir insbesondere die Verbrechen der Nazis an den deutschen Juden unter den Teppich kehren und vergessen.

 

Heute geht das Gespenst wieder um, die Vergangenheit könnte sich mit dem Aufkommen rechtsextremer Kräfte wiederholen. Dabei wird man verbohrte Konservative und Nachfolger der Nazis trennen müssen. Die einen haben in der Deutschnationalen Volkspartei der Weimarer Republik als Steigbügelhalterin der Nazis ihr trauriges Vorbild, die anderen sind Verfassunsfeinde.

 

 

04.08.2016